Der diesjährige Nobelpreisträger in Medizin Prof. Dr. Svante Pääbo hat überzeugende Nachweise für die menschliche Evolutionsbiologie erbracht. Dem Paläogenetiker Pääbo vom Max-Plank-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzip gelang mit Hilfe der Molekulargenetik nicht nur die Aufklärung evolutionärer Verwandschaftsverhältnisse; er konnte damit zudem zeigen, dass dieses jahrtausende alte Erbe bis in die Neuzeit fortwirkt. Archaische Gensequenzen von längst ausgestorbenen Hominiden, wie den Neandertalern z.B., beeinflussen noch heute physiologische Prozesse und sind für heutige Erkrankungen von Bedeutung. Sie entscheiden z.B. mit, wie unser Immunsystem auf den COVID-19-Virus reagiert.
Nur ein Vierteljahrhundert liegt zwischen dem ersten Entdeckungshöhepunkt, Mumien-DNA sequenzieren zu können, und der Analyse von ausgestorbenen Hominiden und anderer Vorfahren. Problematik: deren Gensequenzen sind über die Zeit einerseits in kleine chemische Sequenzen zerfallen und andererseits mit Genfragmenten anderer Herkunft (z.B. Bakterien oder von heutigen menschlichen Zeitgenossen) kontaminiert und mussten isoliert aufgeschlüsselt werden. Diese Methodenverfeinerung nahm Jahre in Anspruch.
2010 markiert das Jahr der größten Durchbrüche. Seinerzeit gelang es zum einen, die längste Genomsequenz von Neandertalern zu veröffentlichen. Pääbo schätzte damals vorsichtig, es handele sich um 60 % des Neandertaler-Genoms. Ins gleichen Jahr fiel die Veröffentlichung über die Funde in der Denisova-Höhle in Sibirien. Dort wurde die gut erhaltene DNA aus Fingerknochen einer bisher unbekannten Hominiden-Familie entdeckt und damit zugleich überkommene evolutionäre Vorstellungen korrigiert: Während ein Teil der Experten die These favorisierte, der moderne Mensch habe sich von Afrika aus überall hin ausgebreitet, ging der andere davon aus, es habe unabhängig voneinander regional verschiedene Entwicklungsorte gegeben. Beides stimmt nicht, wie Pääbo darlegen konnte.
Der größte Genpool des modernen Menschen kommt tatsächlich aus Afrika, aber 1-3 % des Genoms aller Meschen au0erhalb der Subsahara stellen ein Neandertal-Erbe dar. Zusätzlich stammen 5 % des Genoms von der Denisova-Hominiden-Gruppe ab. Die Neandertaler speisten außerdem Genmaterial in die Denisova-Bevölkerung ein, die ihrerseits Input von einer noch unbekannten Hominiden-Familie erhielten, die sich vor mindestens 1 Million Jahre von der menschlichen Genlinie abspaltete. Zusammengefasst: „Fast alle sind mit allen verwandt.“
Im Abgleich von modernen Menschen verschiedener Kontinente lässt sich erkennen, dass sich die DNA-Sequenzen von Neandertalern und denen der heutigen Bevölkerung Europas und Asiens ähnlicher sind als derjenigen des afrikanischen Kontinents. Während der Homo sapiens zuerst von 300.000 Jahren in Afrika auftaucht, haben Neandertaler vor rund 400.000 Jahren vornehmlich Europa und den westlichen Teil Asiens besiedelt. Bis von 30.000 Jahren haben sie mit den modernen Menschen koexistiert, die vor rund 70.000 Jahren im mittleren Osten und danach in Europa auftauchten. Der Sex mit Neandertalern war dabei ziemlich einseitig, wie Pääbo aus Mitochondrien-DNA, die ausschließlich von Müttern vererbt wird, nachweisen konnte. Das Fehlen von m-DNA aus Neandertal-Herkunft lässt schlussfolgern, dass nur Neandertaler-Männer ihre Gene in den modernen Genpool einschleusten, sich also mit Frauen des Homo sapiens paarten.
Ein wesentlicher Treiber für den Einschluss von Neandertaler-Genen stellen RNA-Viren dar. Denn die Neandertal-Spuren im Genom des heutigen Menschen sind bevorzugt Segmente, die Proteine kodieren, die mit diesen Viren interagieren; z.B mit HIV- und Influenza-A-Viren besonders starke Reaktionen zeigen. Dabei ergeben sich einerseits stärkere Bedrohungen durch diese Viren, andererseits aber auch neue Gene, um der neuen Infektionen Herr zu werden.
Auch für COVID-19 konnten Pääbo und sein Kollege Zeberg zeigen, dass Wechselwirkungen vom Neandertaler-Erbe von vor 10 – 20.000 Jahren das Risiko schwerer Erkrankungen an COVID um 22 % verringern, aber eben auch, dass andere Gen-Cluster die Gefahr von Atemwegsversagen nach SARS-CoV-2-Infektion erhöhen. Auch für Pockenviren und den Erregern der Pest, die vor 7 – 10.000 Jahren auftraten, dürften solche Genvarianten eine Schutzwirkung entfaltet haben.
Quelle: Dr. med. Martina Lenzen-Schulte
Dt. Ärzteblatt, Jg. 119, Heft 41, 14.10.2022, S. A1752-1754