Jesus hätte auch ein Mädchen, oder oder werden können – Teil 2

Die psychosozialen Faktoren im Frau Divers Mann – Werdeprozess

Weltweit finden sich in verschiedenen Zeitaltern und etlichen Kulturen Alternativen zur paarweisen Geschlechter-ordnung. Geschlechtliche Identität, wie auch Sexualität, können flexibel konstruiert sein.
Überliefe­rungen aus Babylonien verdeutlichen: Schon vor 4.000 Jahren wurde Menschen ein drittes Geschlecht zugestanden. Bei einigen nordamerikanischen Stämmen gab es bis zu sechs Geschlechter – biologische und soziale. Durch den Einfluss der christlichen Kolonialmächte verschwand diese Vielfalt.
Seit Dezember 2018 gibt es in Deutschland neben „weiblich“ und „männlich“ die dritte rechtliche Option “divers” (verschieden), die sich auf biologische Intergeschlechtlichkeit bezieht. Sofort änderten 2019 laut Redaktionsnetzwerk Deutschland knapp 1600 Menschen ihren Geschlechtseintrag auf Divers, viel mehr noch wechselten von männlich auf weiblich und umgekehrt. Auch in der Allgemeinbevölkerung rücken diese biologischen und psychologischen Fakten mit der Gender-Diskussion allmählich wieder mehr ins Bewusstsein.
Aufklärung, also Wissen ist da besonders wichtig, um Vorurteilen und schädlichen Phantasien entgegenzutreten.

https://www.uni-due.de/2020-12-16-warum-nur-drei-geschlechter

Bei der Geschlechtsidentität unterscheiden wir die sich entwickelnde
– Kern-Geschlechtsidentität, die festlegt, ob ein Mensch sich als weiblich oder männlich betrachtet.
Es wird davon ausgegangen, dass sie sich spätestens bis zum 2. Lebensjahr herausgebildet hat. 
die Geschlechtsrollenidentität, die sich aus den besonderen psychischen Einstellungen und zwischenmenschlichen Verhaltensweisen – allgemein wie auch spezifisch sexuellen sozialen Interaktionsmustern und Wechselwirkungen – ergeben, die entweder für Männer oder für Frauen charakteristisch sind und sie daher voneinander unterscheiden.
Hier geht man davon aus, dass die Phase zwischen dem 12. und 18. Lebensmonat für die Entwicklung besonders kritisch ist. 
die dominante Objektwahl bestimmt, ob die Wahl eines Sexualobjekts eine heterosexuelle oder eine homosexuelle ist und ob sie sich auf ein breites Spektrum sexueller Interaktionen mit dem Sexualobjekt richtet oder aber auf einen bestimmten Teil der menschlichen Anatomie oder ein nichtmenschliches oder unbelebtes Objekt (z.B. Fetisch).
die Intensität des sexuellen Verlangens spiegelt sich im Dominieren sexueller Phantasien, im Achten auf sexuelle Reize, im Verlagen nach sexueller Betätigung und in der physiologischen Erregung der Geschlechtsorgane wider.

Die Kern-Geschlechts-Identität

Beim Menschen wird die Kern-Geschlechtsidentität (das Empfinden des Individuums, entweder Mann oder Frau zu sein) nicht durch biologische Merkmale festgelegt, sondern durch das Geschlecht, das die Pflegepersonen dem Kind während der ersten 2 – 4 Lebensjahre zuweisen.
Selbst wenn Eltern unter normalen Umständen glauben, sie würden mit einem kleinen Jungen genau gleich umgehen wie mit einem kleinen Mädchen, legen sie geschlechtsbezogene Unterschiede im Verhalten gegenüber ihrem Säugling an den Tag.
Zwar gibt es Geschlechtsunterschiede, die auf der vorgeburtlichen Entwicklung beruhen, aber diese Unterschiede legen nicht automatisch fest, wie die Ausdifferenzierung des männlichen oder weiblichen Verhaltens nach der Geburt verläuft: Eine zur Feminisierung führende hormonelle Pathologie bei Jungen und eine zur Maskulinisierung führende hormonelle Pathologie bei Mädchen hat, außer bei extremen Ausprägungen hormoneller Abnormität, auf die Geschlechtsrollenidentität stärkeren Einfluss als auf die Kern-Geschlechtsidentität.
Bei Mädchen kann z.B. ein vorgeburtlicher Überschuss an Androgenen (männlichen Geschlechtshormonen) der Grund dafür sein, dass sie später jungenhaft wild (tomboys) sind und beim Spielen und bei aggressivem Verhalten mehr Energie umsetzen.
Bei Jungen kann eine unzureichende vorgeburtliche Androgenstimulation zu einer gewissen Passivität und einer schwach ausgeprägten Aggressivität führen, wirkt sich aber nicht auf die Kern-Geschlechtsidentität aus. Außerdem erwerben hermaphroditische Kinder (“Zwitter“), die eindeutig als Mädchen oder Jungen erzogen wurden, eine dementsprechende gefestigte Identität als Junge oder Mädchen, unabhängig von ihrer genetischen Ausstattung, von ihrem Hormonhaushalt oder sogar – in gewissem Maße – von dem äußeren Erscheinungsbild ihrer geschlechtlichen Entwicklung.
Selbst eine früh einsetzende (krankhafte) Pathologie der Kind-Eltern-Interaktion und -Beziehung wirkt sich nicht auf die Konsolidierung (Verfestigung) der Kern-Geschlechtsidentität aus. Es wurde nicht einmal ein Zusammenhang zwischen Transsexualismus (d.h. Bildung einer der biologischen Geschlechtsidentität entgegengesetzte Kern-Geschlechtsidentität bei den Personen mit klar definiertem biologischen Geschlecht – und genetischen, hormonellen oder genitalen körperlichen Normabweichungen) festgestellt.
Psychoanalytische Untersuchungen von Kindern mit abnormer, also von der erwarteten Norm oder dem Üblichen abweichenden sexueller Identität wie auch der Lebensgeschichte von transsexuellen Erwachsenen gibt Auskunft über die wesentlichen Grundmuster.

Eines davon ist, dass männliche Transsexuelle (die biologisch gesehen Männer sind, sich aber von ihrer Kerngeschlechtsidentität her als Frau erleben) typischerweise eine Mutter mit stark bisexuellen Persönlichkeitsanteilen haben, die Distanz zu ihrem passiven oder nicht verfügbaren Mann hält und ihren Sohn geradezu verschlingt, um au symbolischem (sinnbildlichem, figürlichem) Wege für sich selbst eine Vervollständigung herzustellen. Die paradiesische Symbiose schließt indirekt die Männlichkeit des Jungen aus und bringt ihn dazu, sich in übertriebener Weise mit der Mutter zu identifizieren, sich also mit ihr gleichzusetzen und sich in ihrem Verhalten wiederzuerkennen. Damit einhergehend wird die männliche Rolle abgelehnt, die für die Mutter nicht akzeptabel wäre und die der Vater unzureichend verkörpert.
Bei weiblichen Transsexuellen führen das abweisende Verhalten der Mutter und die Unerreichbarkeit des Vaters dazu, dass die Tochter, die sich in ihrer Rolle als kleines Mädchen nicht bestätigt fühlt, zu einem Ersatz-Jungen wird. Zugleich hilft sie damit unbewusst, die Einsamkeit und Depression der Mutter zu lindern. Das maskuline Verhalten wird von der Mutter unterstützt, deren Niedergeschlagenheit daraufhin abklingt; zugleich verstärkt das Verhalten des Kindes das Zusammengehörigkeitsgefühl in der Familie.

Dass das Verhalten der Eltern gegenüber dem kleinen Kind (insbesondere die Mutter-Kind-Interaktion) Einfluss darauf hat, wie sich seine Kern-Geschlechtsidentität und seine sexuellen Funktionen insgesamt entwickeln, lässt sich nicht nur bei Menschen beobachten. Auch bei anderen Primaten lässt sich beobachten, dass eine angemessene Bindung zwischen Säugling und Mutter durch eine Geborgenheit bietende, engen Körperkontakt eine wesentliche Voraussetzung dafür ist, dass sich beim erwachsenen Affen normale sexuelle Reaktionen entwickeln können.

Nach bisherigen Forschungsergebnissen können wir davon ausgehen, dass es frühzeitig eine Geschlechtsidentität gibt, die in der Regel entweder männlich oder weiblich ist; wobei davon auszugehen ist, dass schon die bewussten und unbewussten sexuellen Orientierungen der Eltern und ihre Erwartungen an ihr Kind dabei eine Rolle spielen. Zugleich ist bei beiden Geschlechtern eine psychische Bisexualität vorhanden, die sich aus der unbewussten Identifizierung mit beiden Eltern (so sein wollen wie sie) ableitet. Damit gehört bewusst oder unbewusst eine bisexuelle Orientierung zu den universellen menschlichen Möglichkeiten.

Für eine Kern-Geschlechtsidentifikation spielt es keine Rolle, “ob der Vater das Essen kocht und die Mutter den Trecker fährt”. Diese Geschlechtsrollen sind sozial definiert. Die eigene Kern-Ich-Identität entwickelt sich klar, solange die Geschlechtsidentitäten der Eltern deutlich voneinander unterschieden sind. Verstärkt werden Zuweisung und Übernahme einer Kern-Geschlechtsidentität in der Praxis, indem die auch die Geschlechtsrollen, die als männlich oder weiblich angesehenen werden, vom Umfeld bekräftigt werden.

Die Geschlechts-Rollen-Identität

Die Geschlechtsrollenindentität (die Identifizierung des Individuums mit bestimmten Verhaltensweisen, die in einer Gesellschaft als typisch für Männer oder Frauen gelten) ist stark von psychosozialen (zwischenmenschlichen) Faktoren beeinflusst.
(Psychosozial wird hier das auf das Erleben und Verhalten einer Person bezogen, insoweit es ihre Interaktion (=Wechselbeziehung) mit anderen Personen / Personengruppen oder/und Handlungen betrifft.)
Selbst die spätere Wahl des Sexualobjekts, das Ziel des sexuellen Verlangens, wird in starkem Maße von frühen psychosozialen Erfahrungen abhängig.

Sexualobjket, Foto: https://www.matthiaszehnder.ch/wochenkommentar/darf-man-das/

Alle Vorstellungen und Erwartungen an weibliche oder männliche Verhaltensmuster sind, neben den biologischen Voraussetzungen, von kulturellen, zeitgeschichtlichen und gesellschaftlichen Bedingungen bestimmt. Allerdings sind dabei manche Überzeugungen zur Geschlechtsunterschieden schlicht haltlos, manche sind wissenschaftlich recht gut abgesichert und manche harren noch der Klärung bzw. fallen in den Beobachtungen mehrdeutig aus.

Unhaltbar sind Überzeugungen wie “Mädchen sing geselliger und leichter zu beeinflussen als Jungen”, “Mädchen hätten eine geringes Selbstachtung, seien weniger leistungsmotiviert und besser im Auswendiglernen und bei monotonen Aufgaben” oder “Jungen seien besser bei anspruchsvolleren Aufgaben oder würden analytischer vorgehen” oder “Mädchen stünden mehr unter dem Einfluss von Erbanlagen, Jungen dagegen unter dem Einfluss der Umwelt”, “Mädchen seien eher auditiv (auf das Gehör bezogen), Jungen eher visuell (auf optische Wahrnehmung) orientiert”.
Zu den erwiesenen Geschlechtsunterschieden zählen derzeit, dass Mädchen größere verbale Fähigkeiten haben; Jungen häufiger bessere Ergebnisse bei visuell-räumlichen und mathematischen Aufgaben zeigen und dass sie aggressiver sind.
Noch nicht abgesichert sind Unterschiede in Bezug auf taktile Sensibilität, Schüchternheit und Ängstlichkeit, Aktivitätsniveau, Konkurrenzstreben, Dominanzstreben, Folgsamkeit, Fürsorglichkeit und “mütterliches” Verhalten.

Kultur- und artenübergreifend lässt sich sagen, dass männliche Individuen aggressiver sind und dass das Aggressionsniveau mit Sexualhormonen zusammenhängt.
Bei Mädchen die vorgeburtlich einem Androgenüberschuß (männliches Sexualhormon) ausgesetzt waren, fand sich ein mäßig ausgeprägter Zusammenhang zwischen diesem und der erhöhten Häufigkeit einer späteren homosexuellen Orientierung, doch bedeutsamer war, dass sich solche Mädchen im Vergleich zu Kontrollgruppen jungenhaft wild verhielten, weniger Interesse am Spiel mit Puppen zeigten und weniger Interesse daran zeigten, sich mit Säuglingen abzugeben, dafür aber Spielzeuge wie Autos oder Schußwaffen bevorzugten und lieber mit Jungen spielten.

Solche Ergebnisse legen nahe, dass das Geschlechtsrollenverhalten in der Kindheit von vorgeburtlichen (pränatalen) hormonellen Wirkgrößen beeinflusst wird; andere Befunde deuten darauf hin, dass die meisten Merkmale, in denen sich Jungen und Mädchen unterscheiden, aller Wahrscheinlichkeit nach kulturell bestimmt (determiniert, festgelegt) sind.

Schaut man sich z.B. das Erziehungsverhalten an, das zur Entwicklung von femininem Verhalten bei Jungen führt, sind Wirkfaktoren: Eltern, die gegenüber femininem Verhalten des Sohnes gleichgültig sind oder ihn dazu ermutigen; überbehütende Mutter, abwesender oder sich abweisend verhaltender Vater; kaum Jungen als Spielkameraden.
In Nachuntersuchungen einer Stichprobe solch femininer Jungen fand sich später ein hoher Prozentsatz an Bisexualität und Homosexualität. Allgemein lässt sich sagen, dass Verhaltensmuster, die eigentlich für das andere Geschlecht charakteristisch sind, verbinden sich oft, aber nicht notwendigerweise mit einer homosexuellen Objekt = Partnerwahl.

Die dominierenede Objekt(Partner)wahl

Die bevorzugten Idealbilder attraktiver, erregender Partner/innen leiten sich vermutlich aus Schemata (Mustern) ab, die nicht genetisch, sondern im Entwicklungsprozess im Gehirn angelegt sind und vor dem 9. Lebensjahr durch Umwelteinflüsse vervollständigt werden.

Noch immer scheint es in der westlichen Kultur weit verbreitete Widerstände zu geben, die Existenz einer kindlichen Sexualität zur Kenntnis zu nehmen. Kulturantropologisch (völkerkundlich) konnte gezeigt werden, dass Kinder, wenn derartige Tabus fehlen, spontan sexuelles Verhalten zeigen. Aber auch hierzulande lässt sich in Kindertagesstätten finden, dass Jungen etwa mit 6 – 7 Monaten und Mädchen mit 10 – 11 Monaten an ihren Genitalien herumzuspielen beginnen und dass das Masturbieren sich bei beiden Geschlechtern mach 15 – 16 Monaten durchgesetzt hat. Die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder aus der Arbeiterklasse sich selbst befriedigen, ist doppelt so hoch wie bei Mittel-schichtkindern – was darauf hindeutet, dass Klassenstruktur und Milieu das Sexualverhalten beeinflussen.

Schon Säuglinge und Kleinkinder, wenn sie ihre Kern-Geschlechtsidentität und ihre Geschlechtsrollenidentität aufbauen, orientieren und identifizieren sich unbewusst nicht nur mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil, sondern auch mit dem sexuellen Interesse dieses Elternteils am Partner.
Klinische Eindrücke belegen oft eindrucksvoll das wechselseitig verführerische Verhalten von Kind und Eltern.

Erinnerungsspuren, die sich unter besonderen Affektbedingungen bilden (wenn etwas emotional sehr berührt, intensiv erlebt wird), erhalten Kern-Schemata (Grundmuster) einer Interaktion (Welschelwirkung, Miteinander, Kooperation) zwischen der Selbstrepräsentanz (dem Selbstbild) des Kindes und der Objektrepräsentanz der Mutter (dem inneren Bild von der Mutter) unter dem Vorzeichen eines entweder lustvollen oder unangenehmen Affekts. Infolgedessen bauen sich zwei parallele, anfangs voneinander getrennte Stränge von Selbst- und Objektrepäsentanz auf,
Diese anfänglichen Vorstellungen von der guten bzw. der bösen Mutter (die zunächst wie zwei verschiedene Personen aufgespalten erlebt und noch nicht integriert sind) sind ebenso wie die Wahrnehmung eines lustvoll, guten oder schmerzhaft, böse Selbsterlebens, mit positiven und negativen Affektdispositionen (Veranlagung mit einem bestimmten Gefühl zu reagieren) gekoppelt.
Dies anfangs “nur-guten” oder “nur-bösen” Repräsentanzen (verinnerlichte Vorstellungen) vom Selbst und vom Anderen (Objekt) wird schließlich im Verlauf der Entwicklung zu einem Ganzen integrieret, so dass die bedeutenden Bezugspersonen und dann auch andere, wie ebenso man selbst, als sowohl-als-auch gut und böse erkannt und ausgehalten werden können. Die eigene Identität entwickelt sich also nicht nur aus der Identifikation mit einem bedeutsamen Objekt selbst, sondern wird vor allem aus der Identifizierung mit einer Beziehung zu dem Objekt aufgebaut. So identifizieren wir uns sowohl mit unserem Selbst wie auch mit dem Objekt unseres Begehrens.

Da sich z.B. der Junge als ein von seiner Mutter geliebter Junge erfährt, identifiziert er sich mit der Rolle des männlichen Jungen wie mit der Rolle der weiblichen Mutter. So erwirbt er die Fähigkeit, die Position seiner Selbstrepräsentanz (seiner Vorstellung von sich selbst) einzunehmen und zugleich die Repräsentanz der Mutter (das Bild der Mutter und ihrer Reaktion auf ihren Jungen) auf eine andere Frau zu projizieren (eigene Gefühle oder Vorstellungen anderen Personen zuschreiben); oder er lernt – unter bestimmten Bedingungen – in die Rolle der Mutter zu schlüpfen, während er seine Selbstreprästentanz auf einen anderen Mann projiziert (ähnlich, wie ein Bild mit einem Projektor auf einer hellen Wand abgebildet werden kann). Liegt das Schwergewicht der Ich-Identität auf der Selbstrepräsentanz als Junge, so ist sichergestellt, dass bei ihm die heterosexuelle Orientierung vorherrscht (und dass er in allen Frauen unbewusst nach der Mutter suchen wird). Überwiegt dagegen die Identifizierung mit der Mutterrepräsentanz, kann die Folge ein bestimmter Typus von Homosexualität beim Mann sein.

Beim Mädchen wird die Kern-Geschlechtsidentität durch die allererste Beziehung gefestigt, da sie sich in der Interaktion sowohl mit der eigenen wie auch mit der Rolle der Mutter identifizieren. Andererseits wird auch die unbewusste Identifizierung mit dem Vater durch den späteren Wunsch, den Vater als Liebesobjekt der Mutter zu ersetzen (dies in aller kindlichen Unschuld und Unwissenheit – aber in der Vorstellung, den Vater später zu heiraten und besser, allumfassender zu versorgen, als dies die Mutter tut). Diese innere Vorstellungsfigur wird durch das positive Wählen des Vaters (etwa im 4 – 5. Lebensjahr) in der ödipalen Beziehung stabilisiert.
Auch das Mädchen geht also eine unbewusste bisexuelle Identifizierung (Gleichsetzung) ein.
Da die Identifizierung sich nicht so sehr auf einen Menschen als vielmehr auf eine Beziehung richtet und im Unbewussten somit wechselseitig aufeinander bezogene Rollendispositionen aufgebaut werden, kann an davon ausgehen, dass die Bisexualität psychisch begründet ist.
Sie tritt in der Fähigkeit zutage, die Kern-Geschlechtsidentität zu erwerben und gleichzeitig sexuelles Interesse an einem anderen Menschen des anderen oder des eigenen Geschlechts zu entwickeln.

Intensität des sexuellen Verlangens

Bei diesem Thema sind die wissenschaftlichen Ergebnisse zu den biologischen Mechanismen relativ klar, von der sexuellen Appetenz (Verlangen nach sexueller Aktivität, sexuellen Phantasien, Tagträumen; Gefühl, sexuell zu jemandem anderen hingezogen zu sein) über das sexuelle Arousal (Erregung) bis zu Geschlechtsverkehr und Orgasmus; Orgasmus, der kann, aber nicht muss.
Ungewissheit herrscht dagegen nach wie vor über die Reize, die eine sexuelle Reaktion auslösen, und über die subjektive Qualität des Erregungserlebens. Bei Männern und Frauen sind zwar die physiologischen (körperlichen) Begleiterscheinungen bekannt, während über die psychologischen (seelischen) Ähnlichkeiten und Unterschiede weiterhin Uneinigkeit bei den WissenschaftlerInen besteht.
Dennoch kann man zusammenfassend feststellen, dass bei Menschen ein ausreichender Hormonspiegel zirkulierender männlicher Hormone eine Voraussetzung für die Fähigkeit zur sexuellen Reaktion zu sein scheint und somit das sexuelle Verlangen bei Männern wie bei Frauen beeinflusst. Bei normalen und erhöhten Hormonspiegeln aber sind sexuelles Verlangen und Verhalten erstaunlich unabhängig von hormonellen Schwankungen.
Beim Menschen ist der Faktor, von dem die Intensität des sexuellen Verlangens in erster Linie abhängt, kognitiver (verstandesmäßiger) Natur, und besteht im bewussten Wahrnehmen des sexuellen Interesses, das sich in sexuellen Phantasien, Erinnerungen, in einer erhöhten Aufmerksamkeit für sexuelle Reize niederschlägt und eine gesteigerte Aufmerksamkeit für verstärkende Reize umfasst, die für die eigene sexuelle Orientierung und das passende Sexualobjekt relativ spezifisch (passgenau) sind.
Das Erleben selbst ist nicht rein “kognitiv“, sondern enthält ein starkes affektives Element, so dass es in erster Linien ein gefühlsmäßig-bewusstes Erleben ist.

Physiologisch gesehen ist das affektive Gedächtnis an das limbische System gebunden, das das neuronale (nervliche) Substrat (Fundament) der Sexualität wie auch anderer Appetenzfunktionen (Lust haben auf) ist.
Untersuchungen an Tieren haben gezeigt, dass bestimmte limbische Regionen Erektion und Ejakulation steuern, dass es da sowohl anregende als auch hemmende Mechanismen gibt, die auf die sichtbare Erektionsreaktion einwirken.
Unter dem Einfluss eines emotionalen, sich bewusst sich sexuelles ausrichtenden Zustandes, mobilisiert das limbische System Kontrollzentren, die ein Anschwellen, Feuchtwerden und eine lokal erhöhte Empfindlichkeit der Geschlechts-organe bewirken – deren Gewahrwerden wiederum wird als verstärkendes Feedback (Signal) an das Gehirn geschickt. Es entsteht ein sich selbst verstärkender positiver Engelskreislauf; deren negative Variante Teufelskreislauf genannt wird. Aber all das sind beim Menschen lediglich “Bausteine” des Sexualtriebes, der Libido als ein übergreifendes Motivationssystem. Damit stellt es den Grundaffekt des komplexeren physiologischen Phänomens: des erotischen Begehrens, die in einer emotionalen Beziehung an ein spezifisches Objekt (einen besonderen Menschen, manchmal jedoch auch an besondere Dinge) gebunden ist.

Foto: Lindemann; u.a.
Quelle: Otto F. Kernberg, Liebesbeziehungen – Normalität und Pathologie, Klett-Cotta, 2014 – Übersetzung Christoph Trunk

Otto F. Kernberg ist Direktor des Personality Disorder Institute am New York-Presbyterian Hospital, Westchester Division und Professor für Psychiatrie am Weill Cornell Medical College, New York. Er war lange Präsident der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPA) und gilt als einer der bedeutendsten psychoanalytischen Forscher und Theoretiker.