Ein Gastbeitrag von Dr. Lothar Drese, Wettenberg
Mit dem Auge nehmen wir Lichtwellen selbstleuchtender Lichtquellen (z.B. Sonne) oder von nicht selbstleuchtenden Gegenständen reflektierte Lichtwellen dieser Lichtquellen (z.B. Mond) auf.
Auf der Netzhaut des Auges werden durch diesen Lichtreiz Nervenzellen stimuliert, die diesen entstehenden Nervenreiz an das Sehzentrum des Gehirns weiterleiten. Hier im Gehirn geschieht dann die menschliche visuelle (optische) Wahrnehmung, indem eine subjektive Bildempfindung konstruiert wird.
Aus wissenschaftlicher Sicht ist die Redewendung „einen Blick darauf werfen“ also nicht ganz korrekt.
Der Mensch ist nicht in der Lage, eine Art „Sehstrahl“ auf Gegenstände zu werfen und diese so zu erblicken. Wir können nur das sehen, was entweder selbst in unser Auge strahlt (bspw. Lampe) oder angestrahlt wird und die Lichtwellen in unser Auge reflektiert (bspw. Blume). Daher können wir eine durch Tageslicht angestrahlte Blume sehen, während wir sie nachts nicht wahrnehmen können, obwohl sie existent ist und wir unseren Blick darauf richten.
Gemeinhin würde man entgegnen „Logisch, ist ja auch dunkel“. Dies ist jedoch der springende Punkt: Dunkelheit ist lediglich das Resultat aus fehlenden Lichtwellen, die reflektiert werden könnten.
Dunkelheit ist kein absoluter Bereich der Verborgenheit, sie verhindert den Sehprozess nicht, wenn der Gegenstand selbstleuchtend ist (z.B. Sterne).
Dies hat eine erstaunliche Konsequenz zur Folge:
Wir sind also darauf angewiesen, dass Lichtwellen in unser Auge fallen. Dieser Prozess kostet natürlich Zeit, denn Licht ist nicht einfach vorhanden, sondern breitet sich von seiner Quelle mit einer Geschwindigkeit von 300.000 km pro Sekunde aus.
Folgende Situation (gerundete Werte): Wir beobachten ein Fahrzeug von einer Brücke. Es bewegt sich mit einer Geschwindigkeit von 200 km/h und ist 1 km von uns entfernt. In dem Moment der subjektiven Bildkonstruktion durch die reflektierten Lichtwellen haben diese also die Strecke von 1 km zurückgelegt und dafür 3 × 10-6 Sekunden (3 Mikrosekunden) benötigt. In dieser Zeit hat sich das Fahrzeug natürlich weiterbewegt und zwar 2 × 10-3 Meter (2 Millimeter). Das Fahrzeug befindet sich also in dem Moment der Wahrnehmung gar nicht mehr an der beobachteten Stelle. Wir registrieren folglich optisch Vergangenes.
Sicherlich ist der Effekt im obigen Beispiel marginal (nebensächlich). Der Effekt sinkt sogar bei abnehmender Distanz und geringerer Geschwindigkeit, wächst aber erheblich mit zunehmendem Abstand und steigender Geschwindigkeit des betrachteten Gegenstands.
Wenn wir eine Rakete beobachten, die mit 30.000 km/h am Mond vorbeifliegt – der 400.000 km entfernt von uns ist – dann befindet sich die Rakete während der Beobachtung eigentlich 10 km weiter vorne als das von uns konstruierte Bild.
Noch weiter entfernt: Das James-Webb-Teleskop soll am 24. 12. 2021 ins All starten und spektakuläre Bilder des Universums präsentieren. Das eingefangene Licht für die Bildgebung wird 13,8 Mrd. Lichtjahre unterwegs gewesen sein, also beschert es uns einen Ausflug von 13,8 Mrd. Jahren in die Vergangenheit: kurz nach dem Urknall. Wie das Universum der Gegenwart aussieht, werden wir nie erfahren, es ist schlicht nicht möglich, da die visuelle (die das Sehen betreffende) Wahrnehmung von der Lichtgeschwindigkeit abhängig ist.
Grundsätzlich ist dieses physikalische Kuriosum der Optik omnipräsent (allgegenwärtig) und eröffnet einen eindrucksvollen Fakt: Es gibt keine visuelle Gegenwart.
Wir leben mit dem, was wir Sehen, immer in einer optischen Vergangenheit.
Quelle und Fotos: Dr. Lothar Drese